Mit Design Thinking Kreativität und Innovationsfähigkeit fördern

„Das Tolle am Design Thinking ist, dass es jeder machen kann. Betrachten Sie Kreativität als einen Muskel und nicht als eine Eigenschaft. Man kann ihn trainieren, ihn in Form bringen.“ (Goldman, 2018) Haben wir vor ein paar Jahren bei Kreativität zunächst nur an künstlerische Fähigkeiten gedacht, so geht es bei der Kreativität, wie sie Shelley Goldmann, Professorin für Pädagogik an der Stanford University beschreibt, um eine andere Art der Kreativität. Wir betrachten Kreativität als echte Zukunftskompetenz, die Schüler:innen im Zusammenspiel mit anderen Kompetenzen befähigt, mit Veränderungen, die die digitale Transformation mit sich bringt, umgehen zu können und ihre Lebens- und Arbeitswelt zu gestalten. Spätestens seitdem Andreas Schleicher, Direktor des OECD- Direktorats Bildung und Kompetenzen, 2013 das 4K-Modell auf der re:publica, der größten Konferenz zu den Themen Internet und Gesellschaft in Europa vorstellte, werden die 4K-Kompetenzen Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken auch in Deutschland als elementare Zukunftskompetenzen diskutiert. (Schleicher, 2018) Bei der Frage, wie wir Schüler:innen die Möglichkeit geben können, diese Kompetenzen in der Schule zu erwerben, lohnt sich der Blick in die Arbeitswelt: Agile Methoden wie Design Thinking sind in fast allen Unternehmen, die sich dem Veränderungsprozess, den die digitale Transformation mit sich bringt, unterzogen haben, nicht mehr wegzudenken. Aber nicht nur für die innovative Arbeitswelt, sondern auch für die Schule ist Design Thinking hervorragend geeignet. Mit den wenigen Rahmenbedingungen und der klar strukturierten Vorgehensweise können wir Schüler:innen neue Möglichkeiten eröffnen, Zukunftskompetenzen zu erwerben. 

Was ist Design Thinking?

Design Thinking ist eine systematische Herangehensweise an komplexe Problemstellungen aus allen Lebensbereichen. Während bei herkömmlichen Methoden meist von Anfang an nach offensichtlichen Lösungen gesucht wird, nimmt man beim Design Thinking zunächst das Problem an sich in den Fokus und analysiert es aus der Perspektive derjenigen, die von dem Problem betroffen sind. Ziel ist es, durch den Design Thinking Prozess eine wertvolle Lösung für die Bedürfnisse des Nutzers zu finden, die das Problem auf eine innovative Art und Weise löst. Dabei bilden die Zusammenarbeit eines interdisziplinären Teams, die Anwendung verschiedener kreativer Methoden innerhalb der jeweiligen Prozessphase und die Arbeit in möglichst variablen Räumen das Fundament für den Prozess. (vgl. Abbildung) Diese sogenannte Nutzerzentrierung zieht sich durch den gesamten Design Thinking Prozess oder kurz gesagt: Beim Design Thinking steht der Mensch im Mittelpunkt und nicht etwa die technisch beste Lösung. (vgl: https://hpi.de/school-of-design-thinking/design-thinking/was-ist-design-thinking.html)

Entwickelt wurde Design Thinking von David Kelley, dem Gründer der Design-Agentur IDEO im Silicon Valley. Seine Inspiration bekam Kelley durch die vom Architekten Walter Gropius begründete deutsche Bauhausbewegung, in der schon in den 1920er Jahren unterschiedliche Disziplinen wie Kunst, Theater, Musik und Gestaltung zusammenkamen, um komplexe Fragestellungen kreativ zu lösen. 

Design Thinking im Unterricht 

Zur Umsetzung eines Design Thinking Prozesses im Unterricht eignen sich die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (UN) in besonderer Weise, da sie gleichermaßen soziale, ökologische und ökonomische Aspekte abdecken und Basis vielfältiger Herausforderungen sein können. Eine zunächst offene Problemstellung, die an das Ziel Nr. 4 der Global Goals „Inklusive, gleichberechtige und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten für lebenslangen Lernens fördern.“ anknüpft und die Lebenswelt der Schüler:innen in den Mittelpunkt stellt, könnte lauten: „Gestaltet etwas Wertvolles, um nachhaltiges Lernen zu ermöglichen.“ Mit einer derart offenen Aufgabe stehen die Schüler:innen vor der Herausforderung, ein vielschichtiges, nicht schon auf den ersten Blick lösbares Problem anzugehen. Design Thinking bietet ihnen mit einem klar strukturierten Prozess, bei dem sie im Team sechs Phasen durchlaufen, die Sicherheit, die sie benötigen, um einen so hohen kreativen Anspruch zu bewältigen.  

Phase 1 Problem verstehen

Im ersten Schritt des Design Thinking Prozesses taucht das Team tief in die Problemstellung ein, und stellt möglichst viele Informationen zum Thema Nachhaltiges Lernen zusammen. Alle Teammitglieder bauen Fachkompetenz auf, erkennen Zusammenhänge und bringen jeweils nach ihren persönlichen Fähigkeiten ihre Vorerfahrungen und ihr neues Wissen in die Gruppe ein. 

Phase 2: Beobachten, Informationen sammeln und Empathie aufbauen

In der zweiten Phase baut das Team Empathie für die vom Problem Betroffenen, die Nutzer, auf. Ganz bewusst erweitern die Schüler:innen den Blickwinkel und fragen sich, welche Interessensgruppen primär oder auch sekundär vom Problem betroffen sind. Diese als Empathizing bezeichnete Phase geht weit über die rein fachliche Betrachtung des Problems hinaus. Die Schüler:innen versetzen sich in die Lage der Nutzer:innen, versuchen, sie zu verstehen und die Situation mit ihren Augen zu sehen. Sie können Mitschüler:innen befragen, wann sie nachhaltiges Lernen erlebt haben, wie wichtig ihnen das Thema ist und welche Hindernisse es beim nachhaltigen Lernen gibt. Sie können Lehrer:innen befragen, welche Rolle das Thema nachhaltiges Lernen für sie bei der Planung von Unterricht spielt, wie sie nachhaltiges Lernen „messen und möglicherweise beobachten sie auch Mitarbeiter:innen in einem Unternehmen beim Arbeiten und Lernen. Dieser Perspektivwechsel gibt ihnen die Möglichkeit, Beweggründe und Verhalten anderer Personen zu thematisieren und ihre empathischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Die Bedürfnisse, Ängste und Emotionen der Nutzer:innen stehen dabei stets im Mittelpunkt.

Phase 3: Nutzerperspektive erfassen/ Synthese

Nachdem in Phase 1 und 2 der Problemraum sehr weit geöffnet wurde, werden in Phase 3 die gewonnenen Informationen gefiltert und verdichtet. Das Team entscheidet, in welche Richtung und für welche Nutzergruppe sie eine Lösung finden möchten. Das Team erstellt eine konkrete, aber real nicht existente Persona, für die eine konkrete Herausforderung gelöst werden soll, die letztlich zur Zielerreichung der Design Challenge beiträgt. Das Team fokussiert sich auf eine Sichtweise der ursprünglich sehr weit gefassten Herausforderung und formuliert für die Persona ein Nutzerbedürfnis, das mit einer „Wie können wir  …“ – Frage die Erkundung des Problemraums abschließt: „Wie können wir die Schülerin Marie dabei unterstützen, nachhaltiger zu lernen, damit ihre Lernerfahrungen ihr zukünftig bei der Bewältigung von unterschiedlichen Herausforderungen im Alltag verlässlich zur Verfügung stehen.“

Das Team hat zu diesem Zeitpunkt eine sehr konkrete Vorstellung von Maries Lebenssituation, ihrem Tagesablauf, ihren Wünschen, Sorgen und Zukunftsplänen. Die Persona ermöglicht dem Team Empathie und Fokussierung, um trotz des ursprüglich weiten Themas zielgerichtet nach konkreten Lösungen suchen zu können. 

Nach dem gleichen Prinzip wie in den Phasen 1-3 geht das Team auch im zweiten Teil vor, wo nach einer Lösung für die Herausforderung gesucht wird. Zunächst wird der Lösungsraum weit geöffnet und wird abschließend mit einer konkreten Lösung geschlossen. 

Phase 4: Ideen sammeln

In Phase 4 sammelt das Team Ideen, die zur Lösung des Problems beitragen könnten. Ganz bewusst wird auch mutig und unrealistisch gedacht („Wie würdest du das Problem lösen, wenn du Superman wärst?“) und zunächst eine Vielzahl von kreativen Lösungsmöglichkeiten generiert. In einer Kultur des Arbeitens und Lernens, in der die Freiheit jedes einzelnen die Grundlage für die Kreativität des gesamten Teams ist, kann wirklich Neues entstehen. Die Ideen, nachhaltiges Lernen zu ermöglichen, können vielfältig ausfallen: Klassenverband auflösen, Projekte planen, mehr Wahlfächer, Klassenraum neu gestalten, Lerntagebuch gestalten, Flure umgestalten, Klassenraumprinzip aufheben, Methodenstunden, neue Prüfungsformate, neue Raumkonzepte ermöglichen, Fächer auflösen, Stundenzeiten verändern, und vieles mehr. Dabei steht immer Marie mit ihren Bedürfnissen im Mittelpunkt aller Ideen, um die Nutzerzentrierung zu gewährleisten. 

Phase 5: Prototypen erstellen 

In Phase fünf setzt das Team eine ausgewählte Idee mit der Entwicklung eines konkreten Prototyps um. Mit dem Prototyp wird die Idee für den späteren Nutzer greifbar und erstmals erlebbar. Hat sich das Team vorgenommen, das nachhaltige Lernen mit der Umgestaltung eines Raumes zu unterstützen, so wird beispielweise ein Modell gebaut oder sogar ein Klassenraum mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zunächst nur provisorisch umgestaltet. 

Phase 6: Testen

In Phase 6 stellt das Team potentiellen Nutzern den Prototyp vor. Das Erleben der Lösung und das direkte Feedback für die Design Thinker stehen im Mittelpunkt. In unserem Beispiel könnte eine Gruppe von Schüler:innen eine Schulwoche im neu gestalteten Raum erleben, neue Lernerfahrungen machen und zurückmelden, was am Prototypen gefällt, was verbessert werden kann und was sie sich zusätzlich wünschen, um nachhaltiges Lernen zu ermöglichen. Das Team gewinnt Klarheit, ob die entwickelte Idee den Nutzern hilft oder nicht und entwickelt die Idee weiter. Diese Art des Umgangs mit Fehlern geht mit einer deutlich höheren Kritikfähigkeit aller Beteiligten einher oder besser ausgedrückt, sie wirkt sogar als Motivator. Wenn die Schüler:innen ihren Lösungsansatz nur mal schnell skizzieren oder einen Klassenraum provisorisch neu gestalten, so fällt das mögliche Scheitern leichter, als wenn sie eine Idee vollständig und detailliert umsetzen und schon sehr viel Leidenschaft und Zeit eingebracht haben. 

Mit dem zugrundeliegenden Prinzip der möglichen Iteration einzelner Phasen überwindet man beim Design Thinking den größten Feind der Kreativität: Die Angst vor der Bewertung der Ideen. Damit unterscheidet sich Design Thinking und auch viele andere agile Methoden von dem in der Schule üblichen Streben nach Null-Fehler-Ergebnissen. Beim Design Thinking erleben die Schülerinnen und Schüler eine quasi eingebaute positive Fehlerkultur. 

In seinem Live-Impuls über die Zukunft der Bildung und Arbeit sagte der EU-Jugendbotschafter und Trendforscher Ali Mahlodji „Wir brauchen Mechanismen, die uns dazu befähigen, uns zu erinnern, wer wir einmal waren, denn wir haben alle durch das Leben einer positiven Fehlerkultur als Kind laufen und unsere Sprache gelernt“ (Mahlodji, 2021). Design Thinking könnte einer dieser Mechanismen sein und dazu beitragen Kreativität, visionäre Denkweisen und Selbstwirksamkeit der Schüler:innen zu stärken. 

Stichwort: Time-Boxing

Timeboxing ist eine Methode des Zeitmanagements in der Projektarbeit, die auch beim Design Thinking angewandt wird. Für die jeweilige Aufgabenstellung in den einzelnen Phasen gibt es gibt es eine strenge Zeitvorgabe, in der die Arbeit erledigt werden muss. Ziel ist es, durch den spürbaren Zeitdruck die Aufmerksamkeit zu erhöhen und die Produktivität zu steigern. Zusätzlich zum festen Prozessablauf gibt das Time-Boxing den Schülerinnen und Schüler eine weitere Sicherheit zur Bearbeitung der komplexen Herausforderung. Das Schöne am Time-Boxing ist, dass am Ende fast immer ein vorzeigbares und auch bewertbares Ergebnis steht, das nicht immer dem Anspruch einer zu 100% perfekten Arbeit genügen muss. Mit der Umsetzung des Time-Boxings im Team lernen die Schülerinnen und Schüler sich selbst und das Team immer besser einzuschätzen und dabei die unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten aller Teammitglieder wertzuschätzen und zu respektieren.

Quellenangaben zu den im Text zitierten Quellen: 

Goldman, S. (2018). Design thinking for kids? How teachers can bring this creative problem-solving process into the classroom. https://ed.stanford.edu/news/design-thinking-kids). Abgerufen am 14.01.2022

Schleicher, A. (2018). World class- How to Build a 21st-Century School System. WBV Media. https://dx.doi.org/10.1787/9789264300002-en. Abgerufen am 14.01.2022

Mahlodji, A. (2021). Impulsvortrag „Die Zukunft der Bildung und der Arbeit – Führung neuer Generationen“https://www.schulaufsicht.de/steuerung/fuehrungshandeln/ali-mahlodji-fuehrung-neuer-generationen. Abgerufen am 14.01.2022. 

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